Wenn du an Yoga denkst, was kommt dir zuerst in den Sinn?
Wahrscheinlich: Sport, Dehnübungen, āsana, Atemübungen, vielleicht Meditation. Aber was wäre, wenn ich dir sage: Yoga ist eigentlich viel mehr?
Für mich ist Yoga am besten mit einem Wort beschrieben: Einklang.
Einklang mit dem Körper. Einklang mit dem Geist. Einklang mit der Energie, die dich durchströmt und letztlich Einklang mit dem Rest der Existenz.
Einklang als Zustand, in dem nichts mehr gegeneinander arbeitet – sondern alles miteinander schwingt.
Doch warum überhaupt „Einklang“, wieso nicht die gängigen Übersetzungen und Definitionen benutzen?
Weil Patañjalis Definition – obgleich sie eine wunderbare Tiefe mitbringt, sehr viel Vorkenntnis voraussetzt (was sich auch bei diesem Text stellenweise nicht vermeiden ließ, dazu unten mehr) und die gängigen Übersetzungen wie „Vereinigung“ oder „Zusammenführung“ einfach zu mechanisch sind.
Diese Begriffe setzen nämlich voraus, dass es zwei Dinge gibt, die zusammengeführt werden müssen.
Doch aus Sicht tiefster Erkenntnis, wie sie zum Beispiel im advaita vedanta vertreten wird, ist genau das eine Illusion:
„That it does not see in that state is because, although seeing then, it does not see; for the vision of the witness can never be lost, because it is immortal. But there is not that second thing separate from it which it can see.“
– Bṛhadāraṇyakopaniṣad (4.3.23)
Mit anderen Worten:
In Wahrheit gibt es gar kein zweites Ding, das gesehen werden könnte. Es gibt keine zwei, die vereint werden müssten.
Wenn wir Yoga nur als „Vereinigung“ definieren, bleiben wir im Rahmen des Dualismus gefangen. Wir nehmen an, da wären „ich“ und „der Rest der Existenz“, „mein Geist“ und „mein Körper“, „mein Bewusstsein“ und „mein höheres Selbst“, die irgendwie zusammengebracht werden müssten.
Doch Yoga – verstanden als Einklang – löst diese Trennung auf.
Einklang bedeutet, die zugrundeliegende Einheit nicht erst herstellen zu müssen, sondern sie zu erkennen.
Einheit ist nicht das Ergebnis der Praxis.
Einheit ist die Realität, die durch die Praxis wieder sichtbar wird.
Und genau das eröffnet uns die Perspektive, warum alle Yoga-Wege sinnvoll und vollständig sind:
- Karma Yoga bringt uns in Einklang mit unserem Handeln.
- Bhakti Yoga bringt uns in Einklang mit der Schöpfung und ihrer Quelle.
- Kriyā Yoga bringt uns in Einklang mit der Energie.
- Nāda Yoga bringt uns in Einklang durch den Klang.
- Mantra Yoga bringt uns in Einklang durch die Vibration des heiligen Wortes.
- Jñāna Yoga bringt uns in Einklang durch die Erkenntnis: Es gibt keine Dualität.
- Rāja Yoga bringt uns in Einklang durch Nirvikalpa Samādhi.
Auch wenn nicht alle Pfade notwendigerweise zur Stille des Samādhi führen, führen sie dennoch zu Einklang, weil sie alle auf ihre Weise die Illusion der Getrenntheit auflösen.
So wird Yoga nicht zur Einbahnstraße der Meditation, sondern zur Landkarte des Alltags. Jeder Yoga-Weg ist ein Werkzeug zur Entdeckung der Einheit hinter der scheinbaren Vielheit.
Deshalb ist „Einklang“ der tiefere Begriff, der das gesamte Spektrum bzw. die Essenz des Yoga erfasst.
Ein Missverständnis entsteht oft durch Patañjalis Definition von Yoga:
“yogaś citta vṛtti nirodhaḥ”
frei übersetzt: “Yoga ist das Zurückhalten der Wellen im Geist.”
– (Yoga Sūtras I.2)
Diese Definition ist zweifellos genial – sowohl oberflächlich verständlich als auch tiefgründig. Aber viele reduzieren Yoga dann auf den Zustand völliger Gedankenstille, als wäre das das einzige Ziel.
Das Zurückhalten der Wellen im Geist ist nicht nur für höchste meditative Zustände relevant – es ist auch ein Werkzeug für den Alltag.
Wenn die Wellen des Geistes zurücktreten, reagieren wir nicht bloß impulsiv.
Wir antworten bewusst.
„The ability to observe without evaluating is the highest form of intelligence.“
– J. Krishnamurti
In der Klarheit des Geistes liegt also die Fähigkeit, die Realität zu erkennen – ohne Verzerrung, ohne Vorurteil, ohne die Filter alter Konditionierungen und daraus erwächst die Fähigkeit, entsprechend zu handeln.
Patañjalis Definition ist damit kein Ausschluss anderer Yoga-Wege, sondern ein universeller Mechanismus:
- Ob im Gespräch mit anderen,
- In einer Entscheidung im Beruf,
- Oder im inneren Dialog mit uns selbst –
Die Fähigkeit, die Wellen des Geistes zur Ruhe zu bringen, führt zu Klarheit und authentischem Handeln.
Wie Eingangs schon erwähnt, wird Yoga von Außenstehenden häufig als Sport oder Gymnastik verstanden, dabei ist āsana mehr als nur ein Werkzeug im Rāja Yoga, es ist in Wahrheit ein unterschätzter Zugang zu diesem Einklang.
Warum?
āsana hilft, den Körper so auszurichten, dass er kein Hindernis mehr ist: Ein entspannter, stabiler Körper sendet weniger störende Signale an den Geist.
Druck, Schmerz, Kitzeln, Unruhe – all diese Empfindungen sind Wellen, die unseren Geist beschäftigen. Wenn der Körper geschmeidig und stark ist, wird der Geist freier. Der große Vorteil, wenn man mit āsana seinen Einstieg in Yoga beginnt ist, dass wir über den Körper recht gute Kontrolle haben und dieser im Gegensatz zu unserem Mental nicht dazu tendiert, uns auszutricksen oder etwas vorzugaukeln.
But there is more:
āsana wirkt auch auf den Energiekörper, auf Muster, die wir vielleicht nicht bewusst spüren, die aber doch unsere innere Ruhe beeinflussen. Man kann also sagen:
āsana ist der Brückenschlag zwischen Körper und Geist.
āsana ist der erste Schritt in Richtung Einklang.
Auch wenn es anfangs wie Sport oder Gymnastik erscheint – mit der Zeit wird spürbar:
āsana bereitet den Raum, in dem Klarheit wachsen kann.
Wie kommst du dorthin? Hier ist dein Fahrplan in den Einklang:
- Beginne mit dem Körper. Nutze āsanas, um Spannungen abzubauen und den Körper beweglich zu machen.
- Arbeite mit deinem Energiekörper. Verstehe, wie Energie durch dich fließt, und bring sie in Harmonie.
- Beobachte die Wellen des Geistes. Akzeptiere, dass sie kommen und gehen, ohne sie zu erzwingen oder zu unterdrücken.
- Erkenne die Welt der Worte. Verstehe, dass Worte dich nur begrenzt führen können – wahre Erkenntnis kommt durch Erfahrung.
- Wähle deinen Yoga-Pfad. Dein Pfad ist immer der, der dir gerade am meisten hilft.
- Bleib offen. Lass das Verständnis wachsen, aber verweile nicht im Intellekt. Erlaube der Erfahrung, dich zu transformieren.
Zu guter Letzt
Yoga ist mehr als Praxis. Yoga ist mehr als Theorie.
Yoga ist ein Zustand. Ein Zustand des Einklangs.
Er beginnt vielleicht als intellektuelles Verständnis – aber er wird erst vollständig, wenn du ihn erlebst.
Lass dich darauf ein. Und beobachte, wie sich deine Welt verändert.
“Einheit ist nicht das Ergebnis der Praxis.
Einheit ist die Realität, die durch die Praxis wieder sichtbar wird.”
Sehr gut beschrieben ^
Danke! 🙂