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Spiritualität – (K)ein bloßer Abschnitt des Lebens?

Reading Time: 6 minutes

Hast du jemals darüber nachgedacht, dass unsere Suche nach Spiritualität tatsächlich von einer Illusion angetrieben wird, die tief in unserem Verständnis von Zeit verwurzelt ist?

Für viele Menschen ist Spiritualität nur ein weiterer Schritt in einer Serie von Schritten, die sie das Leben nennen. Viel zu häufig kommt dieser Schritt aber erst dann, wenn sich eine Krise im Leben eingestellt hat – gesundheitlich, beruflich oder der Verlust eines geliebten Menschen. Dann wenden wir uns der Spiritualität zu, in der Hoffnung, darin Antworten für die Krise zu finden. 

Allerdings bedeutet ein step-by-step-Ansatz, dass wir den aktuellen Schritt zum Vorherigen und damit zur Vergangenheit machen. Wie bei einer Treppe des Lebens, die wir hinauf steigen und bei der eine Stufe nun eben die Spiritualität repräsentiert, während die unteren Stufen unsere Vergangenheit sind. Vergangenheit wiederum würde bedeuten, dass das Leben (und damit die Spiritualität) etwas mit Zeit zu tun hätte. 

Aber vielleicht ist gerade unser Verständnis von Zeit selbst das größte Hindernis auf unserem spirituellen Weg?

Zum einen gibt es natürlich die Zeit, die ich als “kosmische Zeit” bezeichnen würde. Diese kosmische Zeit ist sichtbar durch die Bewegung der Himmelskörper – Tag wird zur Nacht, Nacht wird zum Tag, der Mond nimmt zu und ab usw. Diese Art von Zeit ist offensichtlich, wenngleich sie doch nicht die Zeit ist, die ich eingangs meinte. 

Diese Zeit ist Zeit, die in der Psyche stattfindet. Es ist die Zeit vergangener Erfahrungen, Sinneseindrücke und Erlebnisse. Sie lässt uns glauben, dass das Leben eine Abfolge von Schritten ist: wir gehen in den Kindergarten, dann in die Schule, Uni/Ausbildung, schließlich ins Berufsleben und irgendwann in Rente. So betrachtet wäre es logisch, wenn Spiritualität ein Schritt wäre, der sich irgendwo in diese Reihe an Schritten einreiht. 

Könnte es aber sein, dass diese “psychologische Zeit” an sich infrage zu stellen ist?

Wie eingangs erwähnt, bringt die psychologische Zeit auch die Themen Denken, Ego und Beziehungen mit sich. Fangen wir mit dem Denken an. 

Wenn wir unser Denken betrachten, fällt auf, dass sich unsere Gedanken ausschließlich mit der Vergangenheit beschäftigen. Sie bedienen sich vergangener Sinneseindrücke, vergleichen die Gegenwart mit Erlebtem oder malen sich zukünftige Szenarien aus, die jedoch stets auf früheren Erfahrungen basieren – denn nichts anderes kennen wir. Sogar unser Verlangen nach einem schönen Zuhause, der perfekten Beziehung oder dem idealen Job sind Zusammensetzungen vergangener Sinneseindrücke, die wir in die Zukunft projizieren. Unsere Vorstellungskraft, so mächtig sie ist, neigt dazu, uns in diesen zeitlichen Mustern gefangen zu halten, wie ein Fluss, der von der Vergangenheit in die Zukunft strömt, ohne je im Jetzt zu verweilen.

Diese Einsicht lädt uns ein, nicht bloß nach spirituellen “Erfahrungen” zu streben, sondern tiefer zu gehen – uns der subtilen, oft unbewussten Prozesse unseres Geistes bewusst zu werden. Es geht darum, die Schattenseiten unseres Denkens zu erkennen, die sich in der Zeitlichkeit verbergen, und sie ins Licht des Bewusstseins zu führen.

Indem wir dies tun, eröffnen wir uns die Möglichkeit, über die Beschränkungen unserer zeitgebundenen Vorstellungen hinauszugehen und einen Raum zu betreten, in dem Spiritualität nicht nur ein weiterer Schritt in der Abfolge des Lebens ist, sondern eine anhaltende tiefe, zeitlose Verbindung mit dem Wesen unserer Existenz.

Zum oben erwähnten Verlangen sei gesagt, dass die gewünschten Situationen mit Vorsicht betrachtet werden müssen, um eine klare Trennung zwischen Bedürfnis und Verlangen machen zu können. 

Bedürfnisse beziehen sich auf die grundlegenden Aspekte eines gesunden Lebens: das Bedürfnis nach sauberer Luft, gesundem Essen, sauberem Wasser, einem Dach über dem Kopf und Sicherheit. 

Aber wenn unsere Vorstellungen diese grundlegenden Aspekte überschreiten, ist es häufig ein Ausdruck von Verlangen: Wir wollen ein riesiges Haus mit großem Grundstück, bestimmte Nahrungsmittel essen und vor allem bestimmte Erfahrungen machen. Und wieso ist Verlangen problematisch? Hier kommt ein weiterer Aspekt zum Tragen, der eine Folge von psychologischer Zeit ist: das Ego.

Das Ego ist der Denker, den wir als “Ich” bezeichnen. Ich denke, dass “Ich” denke. Es gibt in unserer Vorstellung also einen Denker und die Objekte des Denkens. 

Aber woraus besteht dieser Denker? 

Der Denker, das “Ich”, erwächst aus allen Erfahrungen, die wir gemacht haben, aus allen Sinneseindrücken, allen Emotionen und Gedanken, Träumen,  Ambitionen. Das Ich besteht also ebenfalls lediglich aus Vergangenheit. Genauer gesagt ist das Ich die Vergangenheit. 

Gibt es also überhaupt einen Unterschied zwischen dem Ich und dem Denken? René Descartes hat den berühmten Satz “cogito, ergo sum” – ich denke, also bin ich – geprägt. Das Ich existiert bloß im Bereich des Denkens durch das Denken und weil der Bereich des Denkens in psychologischer Zeit existiert, existiert auch der Denker ausschließlich in diesem Feld psychologischer Zeit. 

Der Denker selbst ist ein Gedanke – es gibt keinen Unterschied zwischen den beiden. Wir können nicht einfach annehmen, dass es einen Denker als eigenständige Entität außerhalb des Gedankens gibt, ohne dafür wiederum das Denken zu benutzen. Sicherlich können wir ein “höheres Ich”, eine beständige “Seele” oder subtilere Formen des Ichs erfinden. Das Instrument, das wir dafür benutzen, ist aber wieder nur das Denken. Selbst wenn wir etwas spüren, das wir dann als “Seele” beschreiben, ist es bloß ein Gedanke an eine Idee und damit an Vergangenes, den wir benutzen, und so der in der Gegenwart passierenden Erfahrung den Stempel der Vergangenheit aufdrücken und sie (die Gegenwart) unsichtbar werden lassen. Das Denken – seiner Natur nach materiell und damit begrenzt und endlich – ist bestrebt, einen höheren Sinn zu finden, eine Verbindung zum Rest der Existenz, etwas, das über seine niederen Triebe, Gelüste, Verlangen und seine Hoffnungen und Träume hinausgeht.

Aber wieso macht das Denken dies und kann das Denken überhaupt eine solche Verbindung herstellen?

Das bringt uns zum Thema Beziehung. Wie bereits erwähnt, ist das Denken ein materieller Prozess, der im Gehirn stattfindet und im Geist sichtbar wird. Als materieller Prozess ist es per Definition begrenzt, denn Materie ist immer begrenzt. Jeder Gedanke hat einen Anfang und ein Ende, ganz egal wie oft der gleiche Gedanke im Geist sichtbar werden mag. Das Denken ist an sich fragmentiert – wir können nicht alle Gedanken auf einmal denken. Das heißt, dass auch das Ich, das lediglich ein Gedanke ist, fragmentiert ist und entsprechend getrennt vom Rest der Existenz. Die ungefähr 8 Milliarden Menschen erzeugen ungefähr 8 Milliarden Egos in ihrem Gehirn und jedes dieser Egos ist getrennt von den anderen – wenngleich sie ihrer Natur nach alle identisch sind. Trotzdem benutzen wir ironischerweise den Begriff “Individuum” – heißt das doch eigentlich “das Unteilbare”. 

Welche Art von Beziehung besteht also zwischen den Egos der Menschen? 

Wir haben gesagt, dass ein Ego ein Bündel der Gedanken, Emotionen, Erfahrungen usw. ist. Darin enthalten sind natürlich auch die Erfahrungen, die das Ego mit anderen Egos gemacht hat. Wenn wir also an eine Person denken, oder gar denken, dass wir diese andere Person “kennen”, dann erzeugen wir eine Vorstellung dieser Person, die auf unseren Erfahrungen mit ihr – direkt oder indirekt – beruht. Diese Vorstellung ist also lediglich Vergangenheit, Denken und damit unser eigenes Ego. Wir sind von dieser Vorstellung aber getäuscht und denken, sie sei tatsächlich die andere Person. Wenn wir also eine “Beziehung” mit dieser anderen Person haben, die auf den gesammelten Erfahrungen mit dieser Person beruht, dann haben wir eigentlich genau genommen überhaupt keine Beziehung mit dieser Person, sondern bloß mit uns selbst. Der Blick durch die Brille der Vergangenheit verzerrt die Gegenwart, wodurch Konflikt entsteht.

Das heißt, das Ego hat keine Beziehung zu der anderen Person. Ein separativer, fragmentierter Prozess wie das Denken kann keine Beziehung zu irgendetwas anderem als sich selbst aufbauen. 

Wäre es also so, dass Spiritualität ein weiterer Schritt in einer Serie von Schritten des Lebens sei, dann wäre Spiritualität Teil von Zeit, daher Teil des Denkens, daher Teil des Egos. Dieses Verständnis von Spiritualität verstärkt also unser Ego, kreiert häufig genug ein sogenanntes spirituelles Ego und führt am Ende nur zu mehr Teilung und Trennung. 

Dann wäre Spiritualität ein Triebmittel für Konflikt (was am Beispiel organisierter Spiritualität, wie Religionen, ja häufig genug zu beobachten ist). 

Spiritualität muss also etwas anderes sein als ein bloßer Abschnitt im Leben. Die Negation der Zeit als Komponente der Spiritualität ermöglicht uns erst, einen echten – tiefen – Zugang zu ihr zu finden. Die Erkenntnis, dass das Ich lediglich ein Gedanke ist, führt zu echtem Selbstbewusstsein im Wortsinne und dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein wiederum führt zu innerem Frieden. Denn wo nichts ist, kann auch nichts verletzt werden, kann nichts irritiert werden. 

Was Spiritualität letztlich ist, lässt sich kaum positiv definieren. Durch eine Negation all dessen, was sie nicht ist, können wir ihr uns aber annähern. Ein Abschnitt im Leben ist sie jedenfalls nicht.

Sie ist etwas völlig anderes, etwas, das unabhängig vom Denken und daher unabhängig vom Ego existiert – was nicht heißt, dass man das Denken nicht benutzen kann, um Spiritualität zu kommunizieren – schließlich habe ich diesen Text ja auch mithilfe des Denkens geschrieben. 

Zentrale Thesen:

○ Spiritualität als Abschnitt des Lebens zu betrachten führt zu Egoismus

○ Das Denken existiert in Zeit

○ Der Denker ist ein Gedanke

○ Es gibt keinen Denker außerhalb des Denkens

○ Das Ego ist fragmentiert und stellt keine Verbindung zu anderen Menschen her

○ Die Vorstellung anderer Menschen sind nur wir selbst

○ Spiritualität ist losgelöst von Zeit

○ Echtes Selbstbewusstsein kommt durch Erkenntnis über das Ego an sich

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4 Comments

  1. Laura T Laura T

    Interesting article. I hope to read more about your perspective on relationships in future blog posts. Looking forward to next weeks post!

  2. Suguna M.J. Suguna M.J.

    Danke für deine Worte! Spiritualität ist immer und wir lernen beim Praktizieren lediglich, unser Ego aus dem Weg zu räumen um uns dem zu öffnen, was immer ist und was wir eigentlich sind.

    • Genau! Leider ist es ein ganz schön schmaler Grat, den man geht.

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