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Aham Brahmasmi – die Falle der Identifikation

Reading Time: 3 minutes

Ich bin… und du bist es nicht.

„Ich bin deutsch.“

„Ich bin Mann.“

„Ich bin links.“

„Ich bin spirituell.“

„Ich bin Muslim.“

„Ich bin gegen die.“

Was haben all diese Sätze gemeinsam?

Sie definieren – und sie trennen.

Sie schaffen ein Ich – und sofort ein Nicht-Ich.

Ein „wir“ – und ein „die“.

Und wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass darin der Ursprung jedes Konflikts auf dieser Welt liegt – wortwörtlich, denn:

  • Ohne Identifikation mit Hautfarbe gäbe es keinen Rassismus.
  • Ohne Identifikation mit Geschlecht keinen Sexismus.
  • Ohne Identifikation mit Nationalität keinen Nationalismus.
  • Ohne Identifikation mit Meinung keine Spaltung.

Jede Form von Gewalt beginnt mit dem Gedanken: „Ich bin das – du bist es nicht.“

Und deshalb sind Identifikationen kein harmloses Gedankenspiel. Sie sind das Fundament von Trennung, Abwertung, Angriff.

Die Welt brennt nicht wegen Waffen. Sie brennt, weil wir uns ständig von vermeintlich anderen unterscheiden müssen; weil wir ständig begrenzte, kleine Identitäten annehmen.


Aham Brahmasmi – die höchste Wahrheit als neue Maske?

Wäre es also nicht toll, wenn wir eine inklusive Identität einnähmen? Eine, die den gesamten Kosmos mit einbezieht. Genau das ist der Gedanke von

Aham Brahmasmi” Ich bin Brahman, ich bin die Quelle der Schöpfung, ich bin der Ursprung selbst.

Bṛhadāraṇyaka Upanishad 1.4.10.

Ein Satz, der alles transzendiert – zumindest theoretisch.

Denn leider führen die Identifikationen, die wir annehmen, noch zu einem weiteren, subtileren Problem. Sie wirken nicht nur nach außen – sie prägen unser Innerstes.

Diese Prägungen führen zu Mustern und diese formen unser Denken, unser Fühlen, unser Reagieren. In der yogischen Lehre spricht man von Samskaras – von konditionierten Mustern, die unser Verhalten steuern, ohne dass wir es merken. Manche dieser Muster lassen sich von außen sehen, zum Beispiel wenn der physische Körper eine bestimmte Form oder Haltung annimmt, oder eine Person die immer gleichen Verhaltensweisen zeigt. Aber auch in den subtileren Körpern, dem Energie-, Emotional- oder Mentalkörper finden sich Muster. So ist aus der modernen Neurologie beispielsweise bekannt, dass sich bestimmte Neuronenverbindungen im Gehirn sehr stark “festigen” können, wenn sie immer und immer wieder benutzt werden – was gleichzeitig das Durchbrechen solcher Verbindungen besonders schwierig macht.

Patañjali sagt in Sūtra I.18:

„Virāma-pratyaya-abhyāsa-pūrvaḥ saṁskāra-śeṣaḥ“

(Im Zustand tiefer Meditation ohne Objekt (Asamprajñāta Samādhi) bleibt nur noch die latente Kraft der Samskaras.)

Bedeutet: Selbst im Zustand tiefer geistiger Stille sind Samskaras noch da – als Restvibration, als tiefe Prägung.

Das heißt, dass selbst wenn wir anfangen, mantra-artig zu wiederholen, dass wir im Grunde eine Manifestation des höchsten Prinzips sind, um eine neue, kosmische Identität anzunehmen und damit versuchen, die kleinen, begrenzten Identifikationen und die daraus erwachsenden Konflikte zu verhindern, wir weiterhin in unseren alten Samskaras gefangen sein werden. Dann wird “ich bin Gott” ganz schnell zu unsinnigem Größenwahn oder einer völlig verzerrten ich-Wahrnehmung und „Aham Brahmasmi“ bleibt eine Idee – kein Zustand.


Im Grunde genommen setzt Yoga genau dort an.

Nicht indem wir noch etwas hinzufügen – sondern indem wir loslassen, was uns prägt.

Denn genau dafür ist Yoga da: Nicht als Technik. Nicht als Theorie. Sondern als Werkzeug zur Reinigung.

  • Āsana befreit den Körper von alten Spannungen und stellt die Geometrie des Körpers wieder her.
  • Prāṇāyāma löst energetische Muster.
  • Yama und Niyama klären unseren Umgang mit uns selbst und der Welt und damit unsere Identifikation.
  • Meditation macht das Unsichtbare sichtbar: unsere Reaktionen, unsere Ängste, unsere Masken.

Wenn wir Yoga so verstehen, wird er zur Brücke: Zwischen Konzept und Erfahrung. Zwischen Wissen und Sein.

Erst wenn Reaktion aufhört, beginnt freies Handeln. Erst dann kann Aham Brahmasmi überhaupt zur Erfahrung werden und bleibt nicht bloß Attitüde.

Doch Achtung:

Auch Yoga kann zur Identität werden. Auch Praxis kann zum Muster werden.

Wenn du dich damit identifizierst, „Yogi“ zu sein, bist du wieder jemand. Und genau das wird dir im Weg stehen.


Der Pfad zur Ent-Identifikation

  • Frage dich: Wer bist du, wenn niemand hinsieht? Welche Sätze beginnen mit „Ich bin…“ – und welche davon engen dich ein?
  • Beobachte deine Reaktionen. Trigger, Empörung, Stolz, Verteidigung – das sind Fenster in dein Inneres.
  • Nutze deine Praxis bewusst. Nicht um besser zu werden. Sondern um frei zu werden.
  • Verliere dich nicht im Weg. Yoga ist kein Kostüm. Kein Titel. Sondern ein Zustand.
  • Verwirkliche statt zu behaupten. Wiederhole nicht: „Ich bin Brahman.“ Sondern lebe: Frei von Reaktion. Klar. Gegenwärtig.

Fazit

Aham Brahmasmi ist keine Behauptung. Es ist kein Gedanke. Kein Glaubenssatz. Keine Pose.

Es ist die Erkenntnis, die entsteht, wenn nichts mehr dazwischen steht.

Kein Ismus. Kein Bild. Kein „Ich bin“.

Nur stilles Erkennen: Ich bin das. Schon immer gewesen.Aham Brahmasmi – die Falle der Identifikation

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2 Comments

  1. Wunderbar gesagt🙏🏻 Die Identifikation mit dem Yogi-Sein ist auch erstmal ein Umweg und Spiritual Bypassing ist ein besonders häufiger aber wir gehen ja alle unsere Wege und letztendlich führen sie ans Ziel. Ich empfehle die regelmäßige Wiederholung eines Mantras, denn auch das kann Muster und Samskaras lösen.

    • Suguna Suguna

      Noch ein Nachtrag: Identifikation kann auch ein Motor sein, sich spirituell weiterzuentwickeln. In meinem Fall war es die Sache mit meinem spirituellen Namen Suguna. Zunächst war mein Wunsch nach dem Namen in dem Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit begründet. Dann motivierte er mich zu intensiverem Sādhana. Und inzwischen spüre ich hauptsächlich seine Mantra Kraft, die mich darin unterstützt, gute Qualitäten zu entwickeln, was die Bedeutung des Namens ist. So wurde aus dem Umweg letztlich Wachstum.

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